Wieso leiden wir eigentlich unter einem Minderwertigkeitsgefühl?
Vor einigen Tagen erhielt ich eine Email, die mich Jubeln ließ! Ein namenhafter Medienvertreter fragte eine kleine Videoserie zu einem bestimmten Thema an. Ich war von den Socken! Wie cool, dass mich Journalisten im überfüllten Internet-Kosmos finden und wie cool, dass meine Expertise offensichtlich wertgeschätzt wird!
Während ich also noch mit großen, leuchtenden Augen auf den Bildschirm starrte, kam mir ein neuer Gedanke. Eigentlich ist dieser Gedanke gar nicht neu, sondern vielmehr so alt, dass ich mich an dessen Entstehung überhaupt nicht mehr erinnern kann.
“Lass das lieber bleiben. Du kannst den Journalisten nur enttäuschen. Du bist nicht gut im Reden vor der Kamera.” What??? Gerade eben hatte ich mich noch so richtig aus dem Bauch heraus gefreut und wollte schon meinem Mann anrufen, um mit ihm meine Freude zu teilen und dann das!
Gott sei Dank kenne ich diese vollkommen automatisierten Gedanken bei mir bereits in und auswendig. Im Grunde wollen sie mich immer dasselbe glauben machen: “Du bist einfach nicht gut genug!”.
Deshalb kann ich das mittlerweile ziemlich einfach in hilfreiche Gedanken umwandeln, die mich wieder selbstsicher, vertrauensvoll und motiviert fühlen lassen.
Sollte eine Psychotherapeutin nicht wissen,wie man Überzeugungen löscht?
Du fragst dich jetzt vielleicht: “Wenn das schon einer Psychotherapeutin so geht, obwohl sie doch wissen müsste, wie man diese destruktive Grundüberzeugung ein für allemal abstellen kann, wie soll ich das denn dann schaffen?”
Sehr alte Grundüberzeugungen können nur schwer überschrieben werden
Lass mich ganz offen mit dir sein. Diese Art Grundüberzeugung ist so alt und wurde von deinem Gehirn schon so viele Millionen Mal in deine Gedanken eingestreut, dass es schlicht unmöglich ist, ihn für immer zu vergessen oder zu überschreiben. Zumindest, wenn diese Überzeugung aus deinen Erfahrungen in den ersten beiden Lebensjahren entstanden ist.
Und so ist das auch bei mir. Ich kann diese Überzeugung nicht löschen und auch nicht von Grund auf verändern. ABER ich kann meinen Umgang damit verändern und das tue ich. Jedes Mal, wenn sie sich wieder ungefragt und automatisch in meine Gedanken und Gefühle einmischt. Das klappt sogar ziemlich gut. Manchmal erreichen diese Art der Gedanken mein Gefühlsleben schon gar nicht mehr .
Alte Überzeugungen hat dein Gehirn dein Leben lang trainiert, neue brauchen Zeit, bis sie genauso stark sind.
Und mit diesem konstruktiven Umgang schaffe ich gleichzeitig eine neue Überzeugung in mir: “Ich bin WOHL gut genug!”, indem ich bewusst immer wieder hilfreiche Gedanken denke und mich dadurch liebevoll in herausfordernden Situationen unterstütze.
Diese Überzeugung muss natürlich durch Erfahrungen erst wachsen. Die alte Überzeugung hatte ja schon entsprechend lange Zeit, sich in deinem und meinem Gehirn so richtig festzusetzen. Bei mir sind das 43 Jahre! Und erst seit ungefähr 15 Jahren trainiere ich meine neue Überzeugung, absolut in Ordnung zu sein. Es kann also noch gar nicht klappen, dass dieser Gedanke dieselbe Durchschlagskraft hat und genauso automatisch in mir entsteht, wie mein alter Satz.
Deshalb übe ich mich in Geduld und täglichem Training :-)
DAS ist es also, was du tun kannst: Deinen Umgang mit alten und tiefsitzenden destruktiven Überzeugungen zu verändern.
Wie entstehen Minderwertigkeitsphantasien?
Aber lass uns am Anfang beginnen. Sicher fragst du dich, wie das denn zustande kommen kann, dass du noch heute die Phantasie hast, du seist nicht gut genug und dir das so richtig in deine Körperzellen und Gefühle einsickert.
Eine sehr hilfreiche Betrachtungsweise, wie ich finde, bietet die Tiefenpsychologie. Sie geht von folgender These aus:
Wenn ein Säugling oder Kleinkind in seinen ersten Jahren auf dieser Welt keine sichere und geborgene Bindung zu seinen engsten Bezugspersonen aufbauen kann, entsteht nicht selten bis ins Erwachsenenalter hinein der Eindruck, nicht wertvoll oder gut genug zu sein.
Wieso ist das so?
Immerhin sind wir als kleine Menschen nicht dafür verantwortlich, ob die Bindung zu unseren Bezugspersonen gelingt. Dazu fehlen uns noch die Kompetenzen.
Wieso also übernehmen wir die Verantwortung für missglückte Bindungen, indem wir glauben, es läge an uns?
Der Konflikt besteht in der Abhängigkeit von unseren Eltern und der Unmöglichkeit, uns von diesen zu trennen, um andere, positivere Erfahrungen machen zu können.
Obwohl wir noch nicht die Kompetenzen für geglückte Bindungen ausgebildet haben und dabei also noch von unseren Eltern abhängig sind, hat unsere Psyche bereits eine Lösung für diese Situation. Der Konflikt, in den wir geraten besteht darin, dass wir abhängig sind von der Liebe, Zuwendung und sicherheitsstiftenden Umgebung, die unsere Eltern für uns bieten können, wir uns also nicht einfach von unseren Eltern trennen können, um mit anderen Menschen positive Erfahrungen zu machen.
Damit wir also nicht die Trauer über diese verlustvollen Mangel-Erfahrungen spüren müssen, uns allein und schutzlos fühlen müssen, bietet uns unsere Psyche einen Ausweg:
Wir beginnen zu glauben, dass es an uns liegt. Wir seien nicht gut genug.
Wir hegen also die Fantasie, wenn wir uns erst soweit weiterentwickelt und "verbessert" hätten, würde die Bindung doch noch gelingen.
Dadurch erleben wir das Gefühl von Kontrolle anstatt uns dem Mangel an Zuwendung und Sicherheit ausgeliefert zu fühlen.
Ein “angepasster” Bewältigungsmodus entsteht
Wir beginnen, nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir uns "besser" im Sinne von "angepasster" verhalten können, um doch noch die Liebe zu erhalten, die wir uns so sehnlich wünschen.
Unser Blick wandert also zu den ANDEREN. Wir beginnen Antennen für die möglichen Erwartungen anderer an uns zu entwickeln. Wir beginnen zu fantasieren, was sich andere von uns wünschen könnten, um ihnen das zu geben, in der Hoffnung, dann ein wenig Zuwendung zu erhalten.
Damit verlieren wir nicht nur den Zugang zu uns selbst, zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen, sondern nicht wenige Menschen beginnen auch aus diesem Grund, ihr Leben nach den ANDEREN auszurichten und dabei ihre eigenen Grenzen zu überschreiten.
Bleiben die Minderwertigkeitsphantasien und Bewältigungsmuster der "Angepasstheit" und möglicherweise auch "Perfektionismus" erhalten, haben wir zwei Probleme:
Ich finde diese Betrachtungsweise sehr entlastend. Lass mich gerne wissen, was du darüber denkst und nutze die Kommentarfunktion, um deine Fragen und Erfahrungen mit mir und der Grow-Community zu teilen.
Ganz herzliche Grüße,
Deine Sonja