Die magische Lösung emotionaler Blockaden!
Ich lese sie immer wieder, die Beiträge, die für knackige und magische Auflösung von emotionalen Blockaden werben. Und regelmäßig spüre ich dabei, wie mein Mageninhalt zu brodeln beginnt und Richtung Ausgang drängt. Ich werde so richtig wütend. Wieso?
Weil wenn das so einfach wäre, dann gäbe es bereits einige milliardenschwere Firmen oder Einzelpersonen, die sich seit Jahren vor Arbeit nicht retten könnten. So einfach ist das. Wenn das jemals funktioniert hätte, wären wir Psychotherapeuten schon längst arbeitslos. Ich denke, wir kennen alle die fürchterliche Situation der fehlenden Therapieplätze, die ein anderes Bild zeichnen.
Ein weiterer Grund liegt darin, dass der Begriff „emotionale Blockade“ impliziert, dass unsere Psyche sehr einfach aufgebaut sei. Da gäbe es also lediglich die Blockade eines Gefühls, weshalb wir nicht das tun, was wir tun wollen. Was soll das denn bedeuten?
Es ist nun einmal so, dass unsere Psyche sehr komplex organisiert ist. Ich neige natürlich auch dazu, die innerpsychischen Prozesse stark zu vereinfachen, um meinen Lesern einen möglichst verständlichen und vielleicht auch bildhaften Eindruck zu vermitteln. Das lässt uns einfacher verstehen, was da innerlich eigentlich vor sich geht. Tatsächlich ist es aber so, dass diese Prozesse derart komplex und auch individuell sind, dass wir in der direkten Arbeit (z.B. in der Psychotherapie) mit diesen Prozessen keine „einfachen“ und vor allem „schnellen“ (z.B. innerhalb von 2 Stunden) Lösungen finden werden. Zumindest dann nicht, wenn wir gerne langfristige und möglichst tiefgreifende Lösungen anstreben, die dazu führen, dass wir beispielsweise eine Ernährungsumstellung für weitere zwei Jahre durchhalten.
Ich möchte euch dies an einem möglichst eindrücklichen Beispiel einmal verdeutlichen. Kürzlich kam eine Patientin zu mir in Therapie, die unter einer Agoraphobie mit Panik litt. Sie erlebte regelmäßig intensive Angstattacken, wenn sie im Begriff war, sich von ihrem Heimatort zu entfernen. Aus diesem Grund vermied sie Ausflüge, längere Autofahrten, Urlaube und Besuche bei Freunden oder Familie in benachbarten Orten. Nun könnte man denken, dass es ausreichen sollte, die Patientin darin zu unterstützen, ihre Ängste zu überwinden und mittels neuer Erfahrungen ihrem Gehirn zu vermitteln, dass diese Situationen ungefährlich seien. Da wir Psychotherapeuten jedoch nicht nur auf die aktuelle Situation und Symptomatik blicken, sondern immer auch verstehen wollen, in welchem Zusammenhang Probleme entstehen und aufrecht erhalten werden, zeigte sich bald, dass die erlebte Angst in einem gänzlich anderen Kontext entstanden war.
Die Patientin erlebte eine kränkende und grenzüberschreitende Situation mit ihrem Schwiegervater, die intensive Wut in ihr ausgelöst hatte. Da sie jedoch Wut als ein gefährliches Gefühl kennengelernt und abgespeichert hatte, war es ihr nicht möglich, dieses zu spüren oder gar auszudrücken. Sie verdrängte die Wut, vermied den Kontakt zum Schwiegervater und versuchte, sich abzulenken. Die Körperreaktionen, die bei Wut entstehen, konnte sie jedoch nicht unterdrücken. Da sie das Gefühl der Wut jedoch nicht spürte, konnte sie den erhöhten Herzschlag, die Hitzewellen, die zitternden Beine und das Dröhnen in den Ohren nicht zuordnen. Sie geriet in Panik und entwickelte die Idee, es könne sich um eine körperliche Erkrankung handeln. In der Folge entstand die Angst vor diesen unangenehmen Körperempfindungen und sich wiederholende Panikattacken.
Da die ersten Panikattacken in einem Flugzeug und wiederholt an einem Tagungsort weit entfernt von ihrem Heimatort aufgetreten waren und sie sich durch die fehlende Unterstützung ihrer Familie einsam und alleingelassen gefühlt hatte, verband sie diese Angstzustände unbewusst mit der Situation „von zuhause weg sein“. Je weiter sie sich also von ihrem Haus entfernte, desto stärker drängten sich ihr folgende Gedanken auf: „Gleich werde ich sicherlich wieder das starke Herzklopfen spüren. Ich könnte in Ohnmacht fallen. Niemand ist hier, um mir zu helfen. Ich kann mich nicht zurückziehen. Es wäre peinlich, wenn jemand mitbekommen würde, dass ich vor Angst beinahe in die Hosen mache oder dass ich in Ohnmacht falle.“
Der Entwicklung dieser innerpsychischen Prozesse lag ihre kindliche Lerngeschichte zugrunde, in der sie behütet bei warmherzigen und verständnisvollen Eltern aufgewachsen war, die jedoch jeglichen Konflikt vermieden. Harmonie war ein wichtiger Familienwert, den es zu schützen galt. Dadurch lernte sie, Wut als etwas „störendes“ und „gefährliches“ zu bewerten. Auch hatte sie aufgrund fehlender Modelle und Erfahrungen keine Strategien entwickeln können, wie sie Wut regulieren und ausdrücken könnte. Auf dieser Grundlage hatte sie einen Abwehrmechanismus für das Gefühl „Wut“ entwickelt, so dass sie es nicht mehr bewusst wahrnehmen konnte.
Wir sehen also, dass aus einer Lebensgeschichte die viel zitierten Glaubenssätze entstehen, verbunden mit komplexen Schemata, in denen nicht nur automatische Gedanken abgespeichert werden, sondern auch Gefühle, auslösende Reize, Bewältigungs- und Kompensationsstrategien und deren erwartete Konsequenzen.
Die Kompensationsstrategien bestanden bei dieser Patientin darin, sich mit Arbeit im Haushalt von diesen Gefühlen abzulenken und mit verstärktem Ausüben von Kontrolle das Gefühl von Sicherheit zu stärken (Kompensation). Denn Wut löste in ihr eine starke Verunsicherung aus, was wir aufgrund der fehlenden Erfahrungen mit Wut leicht nachvollziehen können. Diese Kompensation hatte den Vorteil, dass unangenehme Gefühle für die Patientin nicht mehr spürbar waren.
Wie wir jedoch wissen, hat das Unterdrücken von Gefühlen den langfristigen Nachteil, dass dabei die Körperanspannung steigt. Das ist das berühmte Beispiel mit dem Ball, den man unter Wasser drücken will. Geht nicht oder nur unter enormer Anstrengung und Anspannung unserer Muskeln. Wenn die Körperanspannung steigt, zirkulieren nun vermehrt Stresshormone durch unseren Körper, was eine Angstreaktion wahrscheinlicher macht, sollte noch ein weiterer auslösender Reiz hinzukommen.
Auch verschwinden unterdrückte Gefühle nicht einfach so im Nirvana, sondern sind im Hintergrund oder auch Unbewussten weiter aktiv. Wir kippen die Gefühle bildlich gesprochen in eine abgeschlossene Tonne, die sich mit jedem weiteren „Gefühls-Cocktail“ weiter füllt. Klar, dass die Tonne irgendwann zum Bersten gefüllt ist und auch schon mal mit einem lauten Knall und einiger Zerstörung der näheren Umgebung explodieren kann.
Die Patientin erlebte die Explosion jedoch als unvorhersehbare, unkontrollierbare und äußerst unangenehme Körperreaktionen. Sie nahm wahr, wie das Adrenalin seine Wirkung in ihrem Körper vollzog, ohne jedoch das Gefühl dabei zu spüren. Das würde vermutlich jeden von uns in helle Panik versetzen. Absolut verständlich.
Ich finde, dieses Beispiel macht deutlich, dass wir nicht einfach EINE EMOTION herausgreifen können, um diese Gefühl irgendwie mittels einfacher Technik zu verändern oder auf magische Art und Weise zu „transformieren“, wie das ja gerne genannt wird. So viele innerpsychische Prozesse waren an der Entwicklung und an jeder einzelnen Panikattacke beteiligt, die erst nach und nach bearbeitet werden konnten. Hätte ich lediglich die Angst vor dem Verlassen des Hauses herausgegriffen, wäre die Therapie mit Sicherheit nicht erfolgreich gewesen.
Ich möchte also noch einmal ganz deutlich sagen: Wir Menschen sind komplexe Wesen. Unser Gehirn ist komplex. Die Prozesse, die uns helfen, Wahrnehmung, Erinnerungen, Gefühle, Reaktionen und Handlungen zu steuern, sind komplex. Es braucht Zeit, Problemen auf den Grund zu gehen und diese zu lösen. Wir sollten es uns also wert sein, uns diese Zeit für uns zu nehmen. Schnelle Lösungen versprechen häufig nur kurzfristigen Erfolg. Das kann vor einer kurz bevorstehenden Prüfung Sinn machen. Nicht aber, wenn wir uns grundsätzlich auch für weitere Prüfungs-Situationen wappnen wollen.
Und ein letztes Bild, das dir möglicherweise helfen kann zu verstehen, weshalb eine scheinbar „einfache“ und „schnelle“ Intervention keine tiefgreifenden und v.a. nachhaltigen Effekte haben kann: Erinnerst du dich an den Sportunterricht in der Schule? Sicher habt ihr dort auch Volleyball gespielt. Weißt du noch, wie lange du gebraucht hast, um das „Baggern“ zu erlernen und es schließlich auch in unterschiedlichen Spielsituationen (Ball von rechts oben, Ball von links mittig, schneller Ball, usw.) erfolgreich umzusetzen? Natürlich ist diese Bewegungsabfolge ebenfalls eine komplexe körperliche und geistige Leistung. Es braucht Zeit, um sie zu erlernen und noch mehr Zeit, um sie sicher und in unterschiedlichen Situationen anwenden zu können.
Auch andere Sportarten oder das Erlernen von Musikinstrumenten benötigen Zeit. Weil unser Gehirn durch Wiederholung lernt: Um sich erfolgreiche Abläufe und Bewegungen einzuprägen und um Fehler zu erkennen und entsprechende Veränderungen vorzunehmen und diese wiederum nach mehrmaligen Tests als erfolgreiche Strategie abzuspeichern. Um daraus automatische Bewegungsabfolgen (z.B. Arme für das Baggern zusammennehmen, Unterseite nach oben, Hände zu Fäusten geschlossen, Arme anspannen usw.), also Bewegungen ohne bewusstes Steuern daraus entstehen zu lassen, braucht es mindestens 2.000 Wiederholungen.
Innerpsychische Prozesse sind noch um einiges komplexer als körperliche Bewegungen. Und da stellen wir uns vor, dass wir diese in nur 90 Minuten nachhaltig und tiefgreifend „transformieren“ könnten? Ich gebe zu, das klingt verlockend, aber leider auch unrealistisch!
In diesem Sinne, nehmt euch Zeit, um etwas zu verändern, was so lange in euch gewirkt hat. Seid gnädig mit euch selbst, denn es ist für jeden von uns eine Herkules-Aufgabe, innere Prozesse zu verändern. Auch für mich.